Torsten Weber • 1. Januar 2025
Kompromisse erlauben es pluralistischen Gesellschaften, ihre Vielfalt produktiv in Realpolitik zu kanalisieren. Viele werden an dieser Stelle einwenden, dass es auch schlechte und sogar „faule“ Kompromisse gäbe und dass durch sie notwendige Reformen manchmal einfach nur aufgeschoben würden. Und dass wir gerade jetzt endlich mutige und radikale Reformen benötigten. Ja, alles das stimmt!! Kompromisse können in der Tat nur die aktuelle Veränderungsbereitschaft der Wahlbevölkerung widerspiegeln. In gewisser Weise sind sie lediglich Zwischenschritte. Jede Reform kann schließlich nur nachhaltig erfolgreich sein, wenn Mehrheiten die damit einhergehenden, schmerzhaften Veränderungen mitgehen. Daher sind Kompromisse immer unvollständig und nur vorübergehend und damit eben auch agil „by design“. Und sie sind kleine Erfolge, die man anerkennen und manchmal sogar auch feiern kann, wenn sie als Brücke zwischen den ideologischen Silos der Gesellschaft fungieren. Menschen sind nun mal individuell verschieden und haben unterschiedliche Präferenzen, Interessen, Wünsche und Haltungen. Wenn wir also keine Diktatur von nur Wenigen über Viele und keine selbst ernannte Expertokr atie-Regierung haben wollen, dann müssen wir auch ungewöhnliche Kompromisse wagen.
Ja, Kompromisse verlangen viel von allen Beteiligten. Sie sind mühsam und ruckelig und dauern immer länger als Entscheidungen von autoritären Regimen, die sich am Anfang gut anfühlen, aber später die Gesellschaft zerreißen und langfristig einen verheerenden, empirischen „track record“ haben. Vermutlich haben Kompromisse deswegen einen so schlechten Ruf, weil sie weder die analytische Eindeutigkeit noch den moralischen Absolutismus der ideologischen Maximalpositionen verkörpern können, die in den meisten Filterblasen leider dominieren. Als „Facilitator“ in internationaler Politik und Wirtschaft schaue ich deutlich positiver auf Kompromisse: Ich bin mir meiner „déformation professionelle“ bewusst, aber für mich sind sie manchmal sogar (soziale) Kunstwerke, die die Kraft von Ambiguität veredeln.
Gute Kompromisse benötigen Bürger:innen, die sich NICHT wie Konsument:innen verhalten. Wenn wir möchten, dass die Abgeordneten, die wir gewählt haben, gute Kompromisse für unser Gemeinwesen aushandeln und dabei verantwortungsvoll Dilemmata und Güterabwägungen bei Zielkonflikten berücksichtigen, dann müssen wir zuallererst versuchen, unsere eigenen primitiven Instinkte zu zügeln: Wenn wir jede neue Idee zur Veränderung des Status Quo reflexhaft abwerten, wenn wir bei neuen Vorschlägen ausschließlich über die Nachteile sprechen, wenn wir alle anderen (außer uns selbst) für dumm und inkompetent halten und wenn wir uns ständig über Kleinigkeiten empören, dann incentivieren wir die Verhandelnden, Kompromisse völlig bewusst und rational zu sabotieren. Weil sie dann bevorzugen werden, die primitiven Instinkte (insbesondere in ihren eigenen Filterblasen) zu bedienen. So tragen wir alle dazu bei, dass Kompromisse (und damit auch Reformen) in Demokratien erschwert oder verunmöglicht werden. Was uns dann auch wieder nervt, weil ja „nichts voran geht hier“… Wenn wir als Bürger:innen aus der Geschichte gelernt haben, dann fassen wir uns immer zuallererst an die eigene Nase und hören nicht auf, unsere eigenen „Citizen Skills“ lebenslang zu trainieren.
Ich wünsche uns allen in diesem Jahr einen konstruktiven Umgang mit Kompromissen in unserem Leben. 😊
Herzlichst,
Euer Torsten
© Torsten Weber 2025